Krankenpflege April 24

Pflegende Angehörige: Zueinander schauen


8,8 Millionen Menschen leben in der Schweiz – und werden immer älter. Vor diesem Hintergrund, zusammen mit dem Fachkräftemangel, gewinnt die Angehörigenpflege an Bedeutung. Die Kombination von Anstellungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige mit mehr Nachbarschaftshilfe für Care-Arbeiten und einem Blick fürs Ganze könnten sich als entscheidend für die Zukunft erweisen.

Text: Nicole Eggimann

 

Der 90-jährige Herr A. leidet seit mehreren Jahren an Demenz. Mittlerweise kann die 81-jährige Frau A. ihn nicht mehr allein lassen. Es wäre zu gefährlich. Zweimal in der Woche kommt die Spitex vorbei, in der wertvollen Zeit geht sie rasch einkaufen. Muss sie darüber hinaus etwas erledigen, organisiert sie den Sohn, der nicht allzu weit weg wohnt, sie nach Kräften unterstützt, aber berufstätig ist. Vor der Krankheit war das Ehepaar A. aktiv, sie machten ausgedehnte Velotouren, fuhren jeden Mittwoch mit ihrem Wandergrüppli in die Berge und trafen sich mit Freunden zum Jassen. Tempi passati.

Rund 8,8 Millionen Menschen leben heute in der Schweiz. Und sie werden im Schnitt immer älter. Was für die einzelne Person im besten Fall positiv ist, hat auch eine Schattenseite. Durch medizinisch-diagnostische und therapeutische Fortschritte verlängert sich die Phase der Pflegebedürftigkeit am Ende des Lebens.

 

Pflege in Zahlen

Während gemäss Bundesamt für Statistik Ende 2022 13,6 Prozent der über 80-Jährigen in einem Alters- und Pflegeheim wohnten, nahmen 32,4 Prozent der Gleichaltrigen Pflege zu Hause in Anspruch. Dies entspricht dem Bedürfnis vieler Personen, möglichst lang in ihrem Zuhause leben zu können. Manche davon werden ihren Wunsch nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit umsetzen können, andere werden auf Hilfe angewiesen sein. Der Bedarf an Unterstützung kann unterschiedlich sein und die Datenlage ist da auch nicht ganz eindeutig. Gemäss Bundesamt für Statistik nahmen 2017 20,9 der über 80-jährigen Frauen und 13,3 Prozent der Männer regelmässig oder vorübergehend Spitexleistungen in Anspruch. Diese sind jedoch kein Ersatz für die informelle Hilfe, auf die mehr als die Hälfte der Betroffenen zählen können.

 

Wichtige Stütze

In Zeiten des pflegerischen und medizinischen Fachkräftemangels ist die private Hilfe von Angehörigen eine wichtige Stütze. Die Pflege und Betreuung, die Angehörige oft ganz still und leise leisten, ist für die Gesundheitversorgung der Schweiz von enormer Bedeutung. Die Angehörigenpflege wird von Ehepartner:innen, Kindern, Schwiegertöchtern und -söhnen geleistet. Auch hier ist die demografische Entwicklung keine Hilfe – die durchschnittliche Tochter der Familie, die früher zwei Kinder gehabt hätte, hat heute nicht in echt, sondern im Durchschnitt noch 1,39 Kinder, der Sohn arbeitet nicht mehr im Nachbardorf, sondern pendelt und der Mann ist zum Exmann geworden oder anders gesagt: Auch die familiären Ressourcen geraten zunehmend unter Druck.

Wenn Familienangehörige Hilfe benötigen, sind es nach wie vor oft die Frauen der Familie, die einspringen. Rund 600?000 Personen leisten (unentgeltliche) Care-Arbeit. So wichtig diese Arbeit für die Familien und für die Gesellschaft ist, für die Betroffenen stellt sie auch ein Armutsrisiko dar. Erwerbstätige Personen müssen ihr Arbeitspensum reduzieren, um die kranken Kinder, Ehepartner:in oder alternde Angehörige betreuen und pflegen zu können oder sie können ihre Arbeit nach der Geburt eines behinderten Kindes nicht wieder aufnehmen. Zum einen ist Kranksein für die Betroffenen eine emotionale und finanzielle Belastung, aber eben auch für die Betreuenden. Es entgeht ihnen der Lohn, den sie unter anderen Umständen verdient hätten, und zusätzlich entstehen Lücken in der Altersvorsoge, was spätestens bei der eigenen Pensionierung neue Probleme generiert: durch tiefere Renten.

 

Beruf: Angehörige Pflegen

Dieses Problem wurde erkannt und adressiert, seit spätestens seit dem Jahr 2019 Spitex-Organisationen auch pflegende Angehörige ohne pflegerisches Diplom anstellen dürfen. Nach der Anstellung besuchen diese einen Kurs in Pflegehilfe (oder einen anderen gleichwertigen Kurs), sie dokumentieren ihre Arbeitsleistung und sie werden durch eine diplomierte Pflegefachperson begleitet, die die Fallverantwortung trägt. So erhalten sie für die Arbeit, die sie sowieso machen würden, eine Entschädigung und sind sozialversichert. Abgegolten werden dabei nicht alle Arbeiten, sondern nur die der Grundpflege, also beim Anziehen helfen, Körperpflege oder Essen reichen. Wer hauswirtschaftliche oder betreuerische Leistungen abgelten lassen möchte, muss eine andere Finanzierung via die entsprechenden Versicherungen der betreuten Person prüfen. Pflegerische Handlungen wie Vitalzeichen messen, Medikamente verabreichen oder Spritzen setzen müssen von Spitex-Angestellten mit entsprechender Ausbildung vorgenommen werden. Nun hat die Spitex die gleichen Probleme wie der Rest der Pflege auch: Die häusliche Pflege wird zunehmend komplex und zeitintensiv und der Fachkräftemangel ist ebenso ausgeprägt. So kann die Möglichkeit, einen Teil der anfallenden Arbeit, nämlich die weniger komplexen der Grundpflege, von geschulten Laien, die die pflegenden Angehörigen meist sind, abzudecken eine kreative und sinnvolle Lösung sein. Die diplomierten Pflegefachpersonen können dort eingesetzt werden, wo ihre Kennntisse benötigt werden und werden so entlastet. Auf jeden Fall ein Win-Win-Situation, wobei es stets die nicht selten komplexen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen gilt.

 

Pflegefachpersonen in zentraler Rolle

Der Spitex-Betrieb trägt die Verantwortung für die Qualität der durch angestellte pflegende Angehörige geleistete Arbeit. In diesem Setting übernehmen die fallverantwortlichen Pflegefachpersonen eine wichtige Schnittstellenfunktion. Sie ermitteln zu Beginn schriftlich den Pflegebedarf einer betreuten Person, klären das Umfeld ab, holen die ärztliche Verordnung für eine maximale Zeitdauer von neun Monaten ein und sie erstellen zusammen mit den Angehörigen einen individuellen Pflegeplan. Nach neun Monaten ist eine erneute Abklärung der zu erbringenden Leistungen, respektive des Pflegebedarfs, notwendig. Dazwischen stehen sie den pflegenden Angehörigen fachlich und menschlich zur Seite, geben inhaltliche Ratschläge und machen regelmässig Besuche vor Ort. Hier ist es wichtig, dass den Pflegefachpersonen die nötigen Tools und einheitliche Qualitätsnormen zur Verfügung gestellt werden, damit sie ihre Schnittstellenfunktion optimal ausführen können.

 

Wichtiger Schritt

Mit der Anstellung von pflegenden Angehörigen wird eine wichtige Lücke geschlossen, diese löst aber natürlich nicht alle Probleme.

Die Batterien aufladen zu können, diese Möglichkeit fehlt Frau A., auf eine ihr eigentlich so wichtige Wanderung geht sie nicht, sie kann weder die Zeit noch die Energie dafür aufbringen. Das geht ihr an die Nieren. So wie man Herrn A. die fortschreitende Krankheit ansieht, so sieht man auch Frau A. die zunehmende Belastung an. Eigentlich ist ihr alles zu viel. Doch mehr Unterstützung oder gar ein Heim können sie sich nicht leisten. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch nicht, denn ihr Einfamilienhaus gilt als Vermögen, das ihnen jedoch nicht in flüssigen Mitteln zur Verfügung steht.

Pflegende Angehörige sind zum Teil rund um die Uhr mit den betreuten Personen zusammen. Dass dies leicht zu einer Überforderung und Überlastung führen kann, liegt auf der Hand. Wichtig ist, dass die Patient:innen die Pflege erhalten, die sie benötigen und dass die Angehörigen ebenfalls den Schutz erhalten, den sie benötigen. Die Angehörigenpflege führt unweigerlich zu einer Veränderung der Beziehung. Aus Mann und Frau oder Mutter und Sohn werden Pflegende und Gepflegte. Das bringt ein Machtgefälle mit sich, mit dem beide Seiten umzugehen lernen müssen. Dann ist wichtig, dass die pflegenden Angehörigen lernen, sowohl Bedürfnisse als auch Probleme zu benennen – um sicherzustellen, dass einer überlastung vorgebeut und sichergestellt wird, dass im richtigen Moment die Pflegefachpersonen übernehmen können.

 

Pflege und Betreuung

Ein Lösungsansatz zur Entlastung von pflegenden Angehörigen – seien sie angestellt oder nicht – ist die Unterscheidung und Trennung von Pflege und Betreuung. Nicht alle Menschen sind Pflegefachpersonen mit deren pflegerischer Kompetenz, aber alle können einer Freundin oder einem Nachbarn in Not etwas Gutes tun und pflegenden Angehörigen so ein wenig von der dringend benötigten Atempause verschaffen: einen Einkauf erledigen, für sie mitkochen, mit der betreuten Person ein Brettspiel spielen oder ihr eine Geschichte vorlesen, einen Behördengang übernehmen. Betroffene erzählen, dass es (im Nachhinein) zahlreiche Angebote und Initiativen gäbe. Es existiert einfach keine zentrale Anlaufstelle dazu, vielmehr müssen die Angebote in aufwändiger Klein- und Sucharbeit gefunden und organisiert werden. Das bedarf Zeit und Energie, an der es pflegenden Angehörigen gerade dann, wenn Hilfe am nötigsten wäre, oft fehlt. Zeitbörsen oder die selbstorganisierte ganzheitliche Pflege von Buurtzorg (s. Krankenpflege 2020/3) sind zwei Beispiele von vielen erfolgreich betriebenen Angeboten der Nachbarschaftshilfe. Ein Drittel der Männer und Frauen helfen gemäss Bundesamt für Statistik anderen Personen mit gesundheitlichen Problemen unentgeltlich. Es ist schön, dass auch in unserer zunehmend von Individualismus und nicht selten auch Egoismus geprägten Gesellschaft solches Engagement vorhanden ist und gelebt wird. In Zeiten wirtschaftlicher Bedrängnis und des zunehmenden Bedarfs an Unterstützung wird dieses Zueinander-Schauen zunehmend wichtiger werden.

Als Herr A. schliesslich stirbt, ist es für die Familie nebst der Trauer auch eine Erleichterung. Nachdem Frau A. aus dem anfänglichen Loch, in das sie stürzte, wieder hinauskommt, beginnt sie, nach und nach das Leben wieder zu geniessen. Sie erinnert sich an die schönen Zeiten mit ihrem Mann und heute sieht man sie mittwochs wieder mit dem Wandergrüppli.

 

Demografische und gesellschaftliche ­Herausforderungen

300 bis 400 Pflegende verlassen monatlich ihren Beruf. Bis 2040 wird es 88 Prozent (!) mehr über 80-jährige Menschen geben und es werden zusätzliche 80 000 Pflegende benötigt. Es ist klar, dass mehr Pflegende ausgebildet werden müssen (Paket 1 der Pflegeinitiative), und die Arbeitsbedingungen müssen derart ausgestaltet sein, dass die Pflegenden im Beruf bleiben wollen und können (Paket 2 der Pflegeinitiative). Darüber hinaus darf man auf die Entwicklungen im technischen Bereich hoffen. Hoffen ist das eine, Fakt wird aber bleiben, dass Menschen am Anfang, oft am Ende des Lebens (und manchmal auch mittendrin) auf andere respektive auf Pflege angewiesen sind. Das ist ein Punkt, der speziell in unserer individualistischen Gesellschaft gern ausgeblendet wird. Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich. Ich, das Individuum. «Diese Ignoranz von Abhängigkeit und Interdependenz führt dazu, dass den Bedürfnissen nach Care, die uns Menschen ausmachen, nicht die Wichtigkeit eingeräumt wird, die sie benötigt. Die Folgen dieser Ignoranz sind mannigfaltig: Care-Tätigkeiten werden in den Verantwortungsbereich der Familie, des Privaten verschoben. Privilegierte Menschen können sich Care-Tätigkeiten einkaufen und weiterhin ignorieren, dass sie auf diese angewiesen sind», meint die Leiterin der Abteilung Bildung beim SBK, Christine Bally.

Würde in einer Gesellschaft diese Frage nach der angemessenen Berücksichtigung von Care gestellt, so hätte die Beantwortung der Frage gemäss Tronto (1993) zu Folge, dass unser moralisches und politisches Leben tiefgreifend überdenkt werden müsste. Das heisst, dass Angehörigenpflege aus dem Privaten ins Öffentliche gehoben würde.

 

Wie Herr und Frau A. aus dem Jahr 2040 in ihrem Schicksal unterstützt werden, können Gesellschaft und Politik heute massgeblich mitbeeinflussen. Lassen Sie uns dies tun.